Ausgerechnet heute will mich eine ehemalige Schulfreundin besuchen. Ein ungünstiger Tag. Ich weiß nicht, weshalb ich nicht abgesagt habe. Ich hätte absagen können, doch ich habe sie, die einmal
eine wirkliche Freundin war, doch gerne wiedersehen wollen. Seit zwanzig Jahren habe ich sie nicht gesehen und ich weiß schon, was sie zu mir bei der Begrüßung sagen wird: Ich hätte dich nicht wieder
erkannt. Ich habe mich verändert.
Ich bekomme selten Besuch, und manchmal möchte ich Besuch haben, denn ich fühle mich manchmal einsam. Heute aber ist ein Gedenktag, den ich allein verbringen will, seit fünfzehn Jahren begehe ich
ihn allein, und doch habe ich Klara heute gestattet, mich zu besuchen. Es war ein Fehler. Was soll ich mit ihr machen. Ich stelle mir vor, daß ich sie ins Wohnzimmer führe und sie zum Sitzen
auffordere. Ich werde ihr einen bequemen Stuhl zurecht rücken von dem sie genau auf Lilli blicken kann. Ich werde ihr schon beim Kommen verbieten, mich etwas zu fragen, ich würde ihr alles erzählen,
sie müßte mir schweigend zuhören. Sie müßte sich auf eine längere Erzählung gefaßt machen. Vielleicht würde sie gerne Kaffee trinken oder an einem Sherry nippen, aber ich würde ihr nichts anbieten,
weil ich auch selbst heute auch nichts zu mir nehme. Nichts, gar nichts. Ich würde die weißen Kerzen, die auf den Kandelabern links und rechts der Vitrine aufgestellt sind, anzünden. Meine Freundin
würde eine Puppe sehen. Sie würde vor der Puppe erschrecken, die in der Vitrine zu schweben scheint. Unter ihrem Fuß sind Wattebauschen ausgelegt. Die Freundin würde den Eindruck gewinnen, als
würde die Puppe über Wolken schweben; die Gliedmaßen, die der Puppe fehlen, es ist das rechte Bein und der linke Arm bis zum Ellenbogen liegen auf der Watte, sind gleichsam auf Wolken gebettet. Der
Kopf von Lilli hat ein großes, splittrig umrandetes Loch auf einer Seite, auf der anderen strubbelt noch ein Büschel gelber Haare. Ein Auge fehlt, das andere, blaue, ist weitaufgerissen und man
glaubt, sie blicke damit in ein Inferno. Der rechte Arm ist wie durch ein Wunder vollständig geblieben, sie streckt ihn nach vor und ihre Hand mit den Fingerchen sehen aus, als würde sie den
Betrachter segnen. Wie das Christuskind. Das rosarote Spitzenkleidchen hängt in Fetzen um ihren Körper, sie hat ihren roten Puppenmund leicht geöffnet und manchmal spricht sie zu mir. Die Puppe Lilli
habe ich nicht so aufgefunden, wie sie in der Vitrine aufgestellt ist, ich habe einzelne Körperteile provisorisch wieder mit dünnen Drähten befestigt, auch das zerfetzte Kleidchen habe ich ihr um den
Körper drapiert, die Teile, die ich nicht mehr anbringen konnte, und sich noch gefunden haben, liegen auf den Wattewolken.
Wenn meine Freundin die Puppe sieht, die Lilli ist, wird sie etwas fragen wollen, vielleicht werde ich auch die Gedanken auf ihrer Stirn lesen, nämlich, daß sie denkt, daß ich verrückt
sei.
Trotzdem werde ich keine Fragen zulassen. Ich werde erzählen und wenn ich alles erzählt haben werde, was ich an diesem Gedenktag zu erzählen habe, werde ich sie verabschieden.
Ich werde ihr auch erzählen, daß ich einmal glücklich gewesen bin, verheiratet und daß ich ein Kind hatte, ein Mädchen. Wir nannten es Anna oder Ännchen. Ich nannte es meistens Ännchen. Als Anna 6
Jahre alt war, hat uns mein Mann verlassen. Es kam überraschend für uns beide, denn obwohl er oft mehrere Wochen beruflich unterwegs war, dachten wir nicht, daß er uns verlassen wollte. Eigentlich
wollte er nur mich verlassen, Anna wollte er behalten. Manchmal kam er, sie zu besuchen, später, als sie zehn Jahre alt war, lud er sie ein zu ihm zu kommen, er lebte zu dieser Zeit in Rom. Sie
sollte während der Ferien eine Woche bei ihm und seiner neuen Frau verbringen. Anna hatte keine große Lust die neue Frau kennenzulernen, allerdings reizte sie der Flug. Er buchte einen Flug. Ich
brachte das Kind zum Flughafen. Ich hielt meine Tränen zurück, denn ich merkte, daß es auch dem Kind schwerfiel, Abschied zu nehmen. Eine Woche, sagte ich, am nächsten Montag bist du wieder bei mir,
du mußt nur sechsmal schlafen, so zählten wir früher die Zeit bis zum Heiligen Abend, bis das Christkind kommt. Ja, sagte sie und blickte zu Boden. Sie rief mich jeden Tag an, sie klang fröhlich, ich
glaube, sie hatte gute Tage mit ihrem Vater. Das will ich mir vorstellen. Daß ihre letzten Tage glückliche Tage waren. Er und seine Frau zeigten ihr Rom, er kaufte ihr auch ein Kleid, das sie sich
gewünscht hatte, das hat sie mir am Telefon erzählt. Am Tag des Abflugs, rief sie mich noch vom Flughafen an und sagte, daß sie sich auf mich freue. Die Maschine sollte um 15 h 40
landen. Ich wartete mit vielen anderen in der Ankunftshalle. Manche trugen Blumen, manche schwenkten Fähnchen, alle hatten erwartungsfrohe Gesichter; ich hatte zuhause einen Begrüßungstisch für Anna
gerichtet mit allem, von dem ich wußte, daß sie es sich gewünscht hatte. Der Flug war delayed. Nach einer halben Stunde war er immer noch delayed. Manche wurden nervös. Auch ich. Aber noch nicht
beunruhigt. Bis es hieß, daß das Flugzeug nicht mehr zu orten sei, jedenfalls verschwunden, vom Radarschirm verschwunden. Da brach eine eine große Unruhe unter uns Wartenden aus, aber wir konnten
nichts erfahren, nur daß das Flugzeug verschwunden war, über den Alpen hieß es. Schließlich hieß es, das Flugzeug sei abgestürzt. In den Alpen in einen Berg gerast, es sei Nebel gewesen, der Pilot
habe die Orientierung verloren. Das interessierte mich nicht, was der Pilot verloren hatte, ich wollte wissen was mit meiner Tochter passiert war. Es gab ja immer wieder Überlebende bei
Flugzeugabstürzen. Aber hier gab es keine Überlebenden, keinen einzigen.
Ich reiste zu dem Ort, alle Angehörigen der Opfer, wie es hieß, reisten an den Ort, an dem das Flugzeug abgestürzt war. Es stellte sich bald heraus, daß es zwar vom Flugzeug noch einzelne
Blechteile gab, jedoch daß die Passagiere durch den Aufprall pulverisiert worden seien, pulverisiert, habe ich gelesen, doch daß Teile von Taschen und anderes an Gepäckstücken in der Schlucht
gefunden werden konnte. Um diese Teile den Passagieren zuordnen zu können, wurden wir Angehörige eines Tages in eine Art Turnhalle gebracht, da lagen auf langen Tischen alle die Sachen, die von den
Opfern übriggeblieben waren und aufgefunden werden konnten. Ich schritt die Tische entlang; ich sah Aufgerissene Rucksäcke, zerfetzte Mäntel, Teile von Handys, aus denen nichts mehr zu rekonstruieren
war, einige Stofftiere aus denen die Holzwolle quoll. Ich glaubte, manchmal ein Fetzchen von Annas Rucksack zu entdecken, dann sah ich neben einem zerbeulten Spielzeugauto eine Puppe. Es war Lilli,
die verstümmelte und zerstückelte Elli, Annas Lieblingspuppe. Ich glaube ich bin zusammengebrochen, habe irgendwie das Bewußtsein verloren, würde ich meinem Besuch erzählen, in der Lazarettstation
wurde ich wieder wach und ich wollte sofort wissen, wo die Puppe sei. Man brachte sie mir in einem Karton. Auch die Gliedmaßen, es fehlte ein Oberschenkel, der war offenbar auch pulverisiert
worden.
Als ich wieder halbwegs bei Sinnen war, habe ich Lilli versucht wieder zusammenzusetzen. Dabei habe ich mir die letzten Minuten meiner Anna vergegenwärtigen können. Ich bin sicher, daß sie die
Puppe an sich gepreßt hielt, als das Flugzeug plötzlich in den Sinkflug gegangen war, als unter den Passagieren Panik ausgebrochen war, man hatte später auf der Blackbox oder auf irgendeiner anderen
Box, jedenfalls hatte man Schreie gehört, schreckliche Schreie, wahrscheinlich hatte auch Anna geschrien und ihre Puppe an sich gepreßt, wahrscheinlich hat sie nach mir gerufen, sicher hat sie nach
mir gerufen, und ihre Lilli an sich gespreßt, und Todesangst empfunden, und ihre Lilli an sich gepreßt. Und doch ist ihr schließlich Lilli aus den Armen gerissen worden. Wie lange hatte sie
geschrieen, wie lange war sie vor Todesangst fast verrückt geworden. Man hat berichtet, daß es zehn Minuten oder eine Viertelstunde gedauert hat, bis die Passagiere merkten, daß das Flugzeug
abstürzte. Zehn Minuten während der meine Anna nach mir gerufen hat, geweint, geschrien hat. Oder ist sie ganz still gewesen, mit der Puppe im Arm, mit der Puppe an sich gepreßt, vielleicht hat sie
ihr Gesicht an den Puppenkörper gedrückt gehabt, vielleicht hat sie die Fäuste an die Ohren gepreßt um den Lärm der Motoren, das Kreischen der Passagiere nicht mehr zu hören. Ich werde es nie
erfahren und ich werde nie aufhören mir täglich diese Situation in allen Varianten vorzustellen. Meine Freundin würde vielleicht wissen wollen, ob mich das nicht verrückt gemacht hat, sie würde
sagen, sie selbst würde so etwas verrückt machen, das tägliche Kreisen um die Katastrophe, die ja jetzt schon fünfzehn Jahre her sei, ob ich nicht eine Therapie, eine Psychotherapie gemacht hätte, ob
sie denn nichts gebracht habe, ob man mir nicht geraten habe, einfach nicht mehr an die Katastrophe zu denken, meine Tochter zu vergessen, Ablenkung zu suchen, Reisen mit Freunden zu unternehmen, ich
könne mir das alles doch leisten. Man müsse die Vergangenheit hinter sich lassen können. Das alles würde ich von der Freundin hören, wie ich es schon hundertmal von anderen Wohlmeinenden gehört habe
und wie ich es nicht mehr ertragen kann, deshalb würde ich ihr verbieten, etwas, irgendetwas zu sagen. Ich würde ihr einfach den Mund verbieten. Ich habe bisher noch niemandem verständlich machen
können, was es mir bedeutet, wenn ich täglich mehrmals vor der Vitrine sitze und die Lilli anschaue, manchmal mit ihr spreche. Die Puppe zeigt mir mit ihrem zerstörten Körper, mit ihrem Blick, in dem
sich das Grauen spiegelt, wie Anna die letzten Minuten ihres Lebens verbracht haben muß bevor das Flugzeug an die Felswand einer Schlucht prallte, zerschellte und den Inhalt, besonders aber die
Menschen pulverisierte. Ich mußte mein Blut für eine DNA Analyse abgeben, damit Anna identifiziert werden konnte. Damals hoffte ich noch, daß menschliche Überreste, wenigstens erkennbare Teile ihres
Körpers gefunden und identifiziert werden würden. Es dauerte Wochen bis ich die Nachricht bekam, daß nichts, nur zerfetzte Teile von ihr, die man mir nicht zeigen wollte, gefunden worden seien. Ich
habe jedoch darauf bestanden, sie zu sehen. Ich wollte sie bestatten, ich wollte ein Grab mit einem Grabstein von Anna haben. Einen Marmor, der sie ewig im Gedenken der Mitwelt erhalten würde. Als
man mir auf mein Insistieren, die sogenannten Überreste zeigte, behauptete ich schreiend oder lachend, man sagte mir später, daß ich gelacht hätte, daß das niemals die Körperteile meiner Anna gewesen
sein könnten, DNA hin oder her, und daß ich dieses fremde Fleisch nicht bestatten wolle, daß sie sie behalten könnten. Der Vater des Kindes war auch angereist gekommen, er sagte, daß er mir beistehen
wolle. Er hatte sich, wie ich später erfuhr, um die angeblichen Überreste seiner Tochter gekümmert, hat sie verbrennen lassen und hat sie in einer Urne bei sich aufbewahrt, wie er mir später schrieb.
Ich habe ihm nicht geantwortet, ich brauchte seinen Beistand nicht, er war sogar kontraproduktiv, denn schließlich war er schuld am Tod seines Kindes, er hätte sie nicht per Flugzeug zu sich nach Rom
locken müssen, sie wollte gar nicht zu ihrem Vater reisen, zu der fremden Frau, sie wollte bei mir bleiben, das weiß ich, aber das Gesetz war auf seiner Seite.
Ich war dann eine Weile in einer Klinik. Als ich wieder entlassen wurde, kaufte ich mir bei einem Trödler diese Vitrine und richtete für Lilli diese Bleibe ein. Manchmal vergesse ich, daß die
Puppe nicht Anna ist. Eigentlich vergesse ich es jeden Tag mehr, und irgendwann, bald werde ich glauben, daß Anna in der Vitrine schwebt, wie eine Art Jesuskind und ihr Händchen segnend nach mir
ausstreckt bevor es in den Himmel auffährt. In den Himmel würde sie aber erst aufgenommen werden, wenn auch ich sterbe und das wird vielleicht nicht mehr allzulange dauern, obwohl mein Arzt sagt, ich
sei gesund. Vollkommen gesund. Was weiß der Mediziner, was weiß überhaupt ein Mediziner, von den Vorgängen meines Körpers und meiner Seele, die sich beide verbunden haben, mir das Lebenslicht
auszulöschen.
In zehn Minuten wird meine Freundin vor der Tür stehen. Wahrscheinlich mit einem Blumenstrauß, ihn werde ich Lilli zu Füßen legen.
Es klingelt. Ich öffne die Tür. Meine Freundin bringt keinen Blumenstrauß sondern eine Torte vom besten Konditor der Stadt. Zum Kaffee, sagt sie bei der Begrüßung, und umarmt mich. Wir haben uns
viel zu erzählen, sagt sie.
Ja, sage ich.