Almut Quaas
Almut Quaas

Konditionen des Kindseins

Gedanken zu einer Bilderserie von Almut Quaas


Zwölf Kinder, zwölf Opfer - derselben Gewalt.

Und doch: im Leben, wie denkbar weit voneinander entfernt!
Kinder der Machthaber die einen, die anderen deklariert zu „Untermenschen“. Die einen namenlos, aufgewachsen ohne familiären Halt, die anderen zur „Musterfamilie“ stilisiert, zu nationalen Ikonen erhoben durch ihre Eltern, ihre Anzahl und die Anfangsbuchstaben ihrer Namen, eine fatale Alliteration: Helga, Hildegard, Helmut, Hedwig, Holdine, Heidi – Hitlers Lieblinge. Zu Propagandazwecken missbraucht und geradezu rituell einem System, einer Ideologie geopfert, deren Untergang sie nicht überleben sollten. Dagegen: Der massenhafte Tod derer, die von dieser Ideologie per se für „lebensunwert“ gestempelt, verfolgt und mit maschineller Routine umgebracht wurden.

Opfer derselben mörderische Ideologie, aber was diese 12 sonst noch eint, ist allein die Tatsache, dass sie Kinder waren. Potentielle Träger einer Zukunft, die zu gestalten ihnen gewaltsam verwehrt wurde. Heute zwischen siebzig und achtzig Jahre alt, hätten sie die Chance gehabt, sich in einer anderen Welt zu begegnen, - als Kinder der Opfer und Kinder der Täter, und niemand stünde ein Urteil darüber zu, welcher Ballast für jeden von ihnen schwerer wöge. Die Frage: “Was wäre gewesen, wenn?“, stellt sich vor diesen Bildern der vergegenwärtigten, „fest gestellten“ Kindheit nicht, und auch die wohlfeile Feststellung von der „Gleichheit“ im Tode führt nicht in ihre Zentrum.

Ihr Anlass war Betroffenheit. Der Film „Der Untergang“ von Bernd Eichinger, hatte – als eine Schlüsselszene – ausführlich die Ermordung der sechs Kinder des Propagandaministers Josef Goebbels im Berliner „Führerbunker“ beschrieben. Gleichgültig ob, wie von Eichinger inszeniert, die Mutter Marta Goebbels, oder – historisch strittig – der Zahnarzt Stumpfegger die Zynankali-Kapseln in den Gaumen der schlafenden Kinder zerdrückte: dieser „Medea-Mord“ hat von seinem Schrecken nichts verloren, stellt er sich doch als fatale Konsequenz eines Denkens dar, das nur in der Dimensionen des Entweder-Oder, von Sieg oder Vernichtung funktionierte. Vernichtung der anderen oder, sollten diese wider alle historische Wahrscheinlichkeit die Oberhand gewinnen: Selbstvernichtung, denn das unterlegene „Herrenvolk“ habe mit der historischen Chance auch sein Lebensrecht vertan. Sieg oder Untergang – auf verschiedenen Ebenen wurde diese hybride Logik blutig durchexerziert: Im Kampf bis zum letzten Aufgebot der Kinder und Greise, in Hitlers Befehl der verbrannten Erde, durch die Flucht der Funktionsträger aus der persönlichen Verantwortung durch mehr oder minder heroisch inszenierten Freitod. Was er sich angeeignet hatte, zog der hypotrophe Diktator mit den eigenen Untergang.

Die Kinder hat niemand gefragt. Sie trugen weder Schuld noch Verantwortung, auch wenn sie sich von der Bürde ihres Namens wohl nie hätten befreien können. Es muss aber mehr als bezweifelt werden, dass die Sorge um ihre Zukunft bei einer Tat im Vordergrund stand, die ihnen jede Chance auf diese Zukunft nahm. Vielmehr fragt sich, ob der Mord „an der eigenen Brut“ nicht ähnliche Züge aufweist, wie Hitlers Tötung seines geliebten Schäferhundes namens Goldi. Was einem wert und teuer ist, erst recht vom `eigenen Blut`, ist wert dass es - mit seinem Herrn und Schöpfer - zugrunde geht. Die Logik des Sarnapal. Eine letzte Geste der Bemächtigung. Was sind das für Eltern, die ihren Kindern den Tod wünschen, weil sie sich keine lebenswerte Zukunft nach dem Ende des von ihnen verehrten Systems, nach ihrem eigenen Ende vorstellen können?

Die Malerin und vierfache Mutter Almut Quaas befreite sich vom filmisch reproduzierten Schrecken, indem sie den sechs Ermordeten je ein Portrait widmete, einem kleinen Epitaph gleich, das ihnen aus verständlichen Gründen öffentlich nie zuteil werden wird. Nicht im Kollektiv, als „Goebbels-Familie“, sondern als Individuen führt Almut Quaas uns die Kinder der Täter vor, - die Augen in eine imaginäre Zukunft gerichtet. Es ist am Betrachter, sich zu fragen, wie viel internalisiertes „Herrenmenschentum“ bereits in diesen Köpfen ist. Ob die Entschiedenheit im Blick des scharf gescheitelten Helmut auf sein verehrtes Vorbild deutet.

Das Alter der Dargestellten erlaubt den Begriff der Schuld nicht. Auch wenn sie über alle Maßen privilegiert waren, - sie zählen ebenso zu Opfern Hitlers, wie die 200 Zieh-Kinder des berühmten polnischen Arztes, Schriftstellers und Pädagogen Janusz Korczak. Die Entscheidung Korczaks, der in seinen Schriften immer wieder die Rechte und die Achtung des Kindes einfordert: „Achtung der Unwissenheit des Kindes, Achtung der Wissbegierde des Kindes, Achtung der Misserfolge und Tränen des Kindes, Achtung des Eigentums des Kindes“, dessen wohl wichtigstes Buch den Titel trägt: „wie man ein Kind lieben sollte“, Korczaks Entscheidung, seine Schützlinge aus dem Warschauer Weisenhaus Nasz Dom freiwillig ins Vernichtungslager Treblinka zu begleiten, steht diametral zu der Handlung Marta und Josef Goebbels und anderer Eltern der NS-Führungselite. Korczak folgte seinen todgeweihten Kindern, während die einstigen Machthaber sie verblendet mit sich nahmen, ihren eigenen Sprösslingen das Lebensrecht ebenso rigoros absprachen, wie zuvor Millionen jüdischer Kinder.

Die fatale Analogie brachte Almut Quaas auf die Idee, diese so unterschiedlichen Kindergesichter zu konfrontieren, die Differenz zwischen den Kindern der Opfer und der Täter konkret in Abrede stellend. Dabei geht es weniger um einen trauernden Blick zurück, schon gar nicht um die historische Relativierung des Leidens, sondern um die Bedingungen und Möglichkeiten des Kindseins vor dem Horizont von Hass und Gewalt - auch in unserer Zeit. Es geht um die Vermessenheit, denen das Leben zu stehlen oder zu verdunkeln, welche die Welt vielleicht ein wenig besser machen könnten.

Die Künstlerin zeigt sich an der Frage interessiert, wie kindliche Lebensfreude, Offenheit und Spontaneität zum Erliegen kommen, und wie sie sich – selbst unter den menschenunwürdigsten Verhältnissen – noch winzige, traurige Freiräume behauptet.
Im Mittelpunkt soll nicht die Beschreibung von Schicksalen, sondern das Gesicht des Kinder stehen, - Täter-Kind, Opfer-Kind, Kinder-Opfer, - und was die Verhältnisse in es eingeschrieben hat: Selbstgewissheit, Stolz, Unsicherheit, Vorschein der künftigen Rolle, pure Lebensfreude oder blanke Angst, Schrecken, Fatalität und trotzige Selbstbehauptung. Und hinter alldem stets sichtbar: das Beharren auf jenem Kindsein, das zu schützen und zu fördern der Pädagogin und Mutter Almut Quaas immer ein Herzensanliegen und eine Lebensaufgabe war.
Die Frage nach dem Kindsein, seinen Bedingungen und Gefährnissen – sie wird in Almut´ Quaas Bilderserie ganz unmittelbar und emotional gestellt, - in Hinblick auf die konkrete historische Opfer-Situation der 12 Dargestellten, aber mit zeitloser Eindringlichkeit, sie der Malerin wichtiger ist als jede Gedenktafel.
Diese Worte Janusz Korczaks sprechen mehr als jeder Epitaph:

„Ihr sagt: ´Der Umgang mit Kindern ermüdet uns´. Ihr habt recht. Ihr sagt: `Denn wir müssen zu ihrer Begriffswelt hinuntersteigen. Hinuntersteigen, uns herabneigen, beugen, kleiner machen`. Ihr irrt euch. Nicht das ermüdet uns. Sondern – dass wir zu ihren Gefühlen emporklimmen müssen. Emporklimmen, uns ausstrecken, auf die Zehenspitzen stellen, hinlangen. Um nicht zu verletzen.“

Stefan Tolksdorf